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Als Heilpädagoge im Ost-West-Dialog

Persönliche und berufliche Erfahrungen eines Karpatendeutschen[1]

Als Heilpädagoge, der am Ost-West-Dialog aktiv beteiligt ist, lege ich einen reflexiven Bericht vor. Ausgehend von persönlichen Erfahrungen werden vergleichende und aktuelle Forschungs- und Praxisfragen thematisiert.

Im Strom der Zeit

Als 1944 meine Eltern und ich als 10-jähriges Kind aus meinem geliebten Dorf Schwedler (Slowakei) vertrieben wurden, waren wir heimatlos …. ein Jahr Flucht folgte. Wir konnten unser Leben noch retten. Mein Vater starb an den Folgen des 1. Weltkrieges. Meine Mutter und ich waren sehr arm. Ich arbeitete in den Ferien.                                                              
Mit 18 Jahren führte mich der Weg in die Heil- und Pflegeanstalt Bruckberg bei Ansbach. Dort betreute ich in den Sommerferien eine heterogene Gruppe mit 18 schwer- mehrfachbehinderten Erwachsenen, die zum Teil erheblich traumatisiert und psychisch beeinträchtigt waren. Mit ihnen lebte ich einen Monat lang Tag und Nacht zusammen.  Bald begegnete ich dem feinfühlen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak, den ich in meiner beruflichen Tätigkeit als Symbol der Menschlichkeit verstehe.                                                              
Im Erinnerungsbuch an Janusz Korczaks 80. Todestag stellte ich heraus, dass Erziehungswissenschaftler bescheidener werden sollten (Klein 2022, 10). Doch wir beobachten in Fachbüchern das Gegenteil, nämlich einen Expertenstil, der mit großen und eindrucksvollen Worten Sicherheit vermitteln will. Dieser inhaltsleere Stil der verwissenschaftlichen Pädagogik zerstört aber den gesunden Menschenverstand. Darauf weist uns der Erkenntnistheoretiker Karl Popper hin: „Praxis und Wissenschaft sind seit eh und jäh darum bemüht die Wahrheit zu suchen und nicht die Sicherheitssuche“ (Popper 1994, 113). Um diese Wahrheitssuche ging es Janusz Korczak. Seine Handlungsethik verstehe ich als Kulturimpuls.

Zum Selbstverständnis der Heilpädagogik im europäischen Bildungsraum

In seinen moralischen Schriften spricht der Humanist Umberto Eco davon, dass er durch die Kraft des Wortes “Freiheit“ neu geboren wurde. „Wir müssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlich-ziviler Kleidung […] Das Leben ist nicht so einfach. Der Ur-Faschismus kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen – jeden Tag, überall in der Welt. [….] Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe. Unser Motto muss heißen: ‘Nicht vergessen!‘“ (Eco 2000, 67).
Bei diesem Prozess steht die Heilpädagogik an vorderster Stelle. Sie kann den Ur-Faschismus durch ihre sinnzentrierte Praxis entlarven, die sich durch eine „gemeinsame Daseinsgestaltung als gemeinsamer Gestaltungsprozess vollzieht“ (Kobi 2004, 74). Das zeigen auch die Anfänge der Heilpädagogik, die mein Denken und Handeln begleiten und für die Erzieherpersönlichkeit ein ethisches Fundament sein können.

 Dialog der Kulturen pflegen

„Der akademische Austausch über Ländergrenzen hinweg und der Dialog der Kulturen sind abstrakte Begriffe solange sie nicht durch Menschen Gestalt annehmen, die in andere Länder gehen, um dort zu arbeiten, zu studieren und zu forschen“. So heißt es in einem Brief, den der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001 an alle Stipendiatinnen und Stipendiaten geschrieben hatte. Dieser Satz benannte zugleich mein Motiv, warum ich mich nach der Emeritierung (1997) vor allem in meinem Geburtsland Slowakei und in Ungarn bis 2015 engagiert hatte. Mit dem DAAD und der Hochschulrektorenkonferenz hoffe ich auf eine „bessere, friedvollere Zukunft in allen Teilen der Welt.“

Ferdinand Klein sitzt mit mehreren Personen in einem beleuchteten Raum. Sie sprechen miteinander und hören aufmerksam zu.
Mit Studierenden in Budapest im Gespräch

Ich versuchte Inhalte zu vermitteln, die es den Studierenden ermöglichten im europäischen Wissenschaftsdialog mitzudenken. In den Kollegien hielt ich mich zurück. Gefragt war meine fachliche Kompetenz insbesondere bei der Umstrukturierung der Studiengänge. Als Berater trat ich dort in Erscheinung, wo es einen tatsächlichen Bedarf gab. Für eigene Entscheidungen zeigte ich Alternativen auf.

Forschungsperspektiven

Die Geschichte der europäischen Heilpädagogik ist bis heute nicht hinreichend erforscht. Vor allem die Motive der Tagungen könnten auf der Grundlage der Kongressberichte analysiert und für den Ost-West-Dialog bewusstgemacht werden. Diese primär ideengeschichtliche Forschung sollte einer Haltung entspringen, die von der Idee und Bereitschaft getragen ist Europa als „kulturelle Lerngemeinschaft“ (Lepenies 2006) zu verstehen.
Bei der Erörterung dieser Fragen ist darauf zu achten, dass gerade die westlich-rationale Denkweise sich nicht als universal gültig sieht und ihre Maßstäbe und Weltsichten an der Kultur des jeweils anderen Landes prüft. Dieser implizite Universalismus ist bei der eigenen Wirklichkeitskonstruktion zu hinterfragen und in eine Kultur des partnerschaftlichen Dialogs zu wandeln.                                                     
Alois Bürli[2] bringt den Wandel auf den Punkt: „Durch das sich Einlassen auf das/den Andere(n) werden Denk- und Handlungsgewohnheiten hinterfragt und relativiert. Dadurch wird Internationale Heilpädagogik zum Mittel gegen Dogmatismus, gegen Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit, gegen die Arroganz, die eigenen Ideen und Praktiken zum allgemein gültigen Modell zu erklären. Dies alles stellt allerdings hohe Anforderungen an die persönliche Offenheit, Risikofreudigkeit und Tragfähigkeit“ (Bürli 2006, 12).

Zur Heilpädagogik in der Slowakei  

An der Comenius-Universität Bratislava wird nach der sanften Revolution (1989) neben dem grundständigen spezialpädagogischen Lehramtsstudium auch ein eigenständiges Studium der Heilpädagogik wieder angeboten.  Die Heilpädagogik wurde „rehabilitiert“ und neu strukturiert.
Neu entstandene Aufgaben – wie Prävention, frühe Hilfe, Förderung bei Lernschwierigkeiten, Suchttherapie und Seniorenarbeit – konnten in die Aus- und Weiterbildung integriert werden. Absolvent:innen können zum Dr. paed. promovieren und ein anschließendes Doktoranden-Studium machen (PhD.). Die Transformation des Studiums im Hinblick auf internationale Vergleichbarkeit der Abschlüsse ist inzwischen abgeschlossen.
Die Fort- und Weiterbildung der Mitarbeiter in Sonderschulen und Einrichtungen erfolgt in fünf Methodisch-Didaktischen Zentren, die ihre Veranstaltungen auch dezentral anbieten. Außerdem kooperieren die Zentren mit ausländischen Institutionen, vor allem bei EU-Projekten. In den Zentren können auch Qualifikationen für einen beruflichen Aufstieg erworben werden.
Die Heilpädagog:innen konnten jahrelang keine berufsspezifische Weiterbildung erhalten. Der neu geschaffene Lehrstuhl für Heilpädagogik pflegt Kontakte zu deutschen Kolleg:innen in der Praxis. Kontakte mit dem Ausland, besonders die Beratungsbesuche von Wolfgang van Gulijk und Doris Albert, beide seinerzeit in der Geschäftsführung des BHP tätig, ermöglichten den Aufbau eines modernen Studienprogramms.  Erste heilpädagogische Publikationen wurden gedruckt (Horňáková 2015).

Bildungspartnerschaft konkret                                                       

Seit 2004 wird die Schulpartnerschaft zwischen dem „Förderzentrum für Körperbehinderte Wichernhaus Altdorf“ (Träger Rummelsberger Diakonie, Bayern) und dem staatlichen „Berufsschulzentrum für Körperbehinderte in Žilina“ (Slowakei) gepflegt. Ein erster Höhepunkt der Begegnungen war die offizielle Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde am 30. Juni 2006 in Rathaus von Žilina in Anwesenheit politischer Repräsentanten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Die in deutscher und in slowakischer Sprache verfasst Partnerschaftsurkunde wurde von der Direktorin Daniele Durajová und dem Leiter der Altdorfer Einrichtung, Andreas Kasperowitsch, unterzeichnet. Das Dokument setzt sich folgende Ziele:

  • Verständigung der Menschen untereinander im Allgemeinen, Förderung von Kindern und Jugendlichen im Besonderen;
  • Sprache, Brauchtum und Kultur den Kindern, Jugendlichen und Mitarbeitenden beider Völker gegenseitig näherbringen und insgesamt das Interesse füreinander wecken;
  • Über Grenzen hinweg Kinder und Jugendliche im Miteinander Gemeinschaft erleben lassen sowie Erfahrungen, Wissen und Können unter Mitarbeitenden austauschen.

An diesen heilpädagogisch gestalteten Partnerschaften wird deutlich, dass der Austausch über Ländergrenzen hinweg und der Dialog zwischen Bildungseinrichtungen engagierte Menschen benötigt. Die Partnerschaft zeigt, wie die Beziehungen zwischen den Völkern durch Menschen Gestalt annehmen und zu wirksamen Veränderungen auf beiden Seiten führen können. Die italienische Reformpädagogin Maria Montessori sagte einmal: „Konflikte zu vermeiden ist Werk der Politik, den Frieden aufzubauen ist Werk der Erziehung“. Auf diesen Spuren bewegen sich weitere von mir und meiner Frau Dr. Anna Klein-Krušinová initiierte Schulpartnerschaften zwischen Einrichtungen in Bayern und der Slowakei.

Zur Heilpädagogik in Ungarn

Die ungarische Heilpädagogik versteht sich als traditionsbewusste wert- und wissenschaftsorientierte eigenständige ganzheitliche Disziplin. Sie weist das reduktionistische Menschenbild in die Schranken. Ihre Fundamente sind die Humanitätsidee und das vernünftige Argument (Klein/Zászkalyczky 2009). Sie trotzt Ideologien, wendet sich gegen sozialutopisches und revolutionäres Denken, verschleiert weder die Realität noch redet sie positivistischem Denken das Wort. Spannend an der ungarischen Sicht ist, dass die Heilpädagogik nur bedingt als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft verstanden wird. Als eigenständige Disziplin ist sie eine herausfordernde Positionierung für die meisten Traditionslinien der Heilpädagogik im deutschsprachigen Raum ist (Albrecht/Bürli/Erdélyi 2006, 13).
Diese basale Pädagogik für Menschen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen und Bedarfen wendet sich gegen das Verrechnen des Menschen und seiner Erziehung mit Messlatte, Schnur und Winkelmaß. Für sie kann, wie der Heilpädagoge Péter Zászkaliczky betont, der Mensch nicht auf bloße Kausalitäten reduziert werden. In seiner Unverfügbarkeit geht er in keinem System auf. Dieses Solidaritätsethos hat sich in Ungarn aus der unmittelbaren gesellschaftlichen und geschichtlichen Erfahrung herausgebildet (Zászkaliczky 2008).

Fazit

Die ausgewählten Themen zum Ost-West-Dialog im Feld der wissenschaftlichen und praktischen Heilpädagogik legen nahe, dass wir auf dem Weg zum „gemeinsamen Haus Europa“ unser Wissen und Können durch wechselseitige Lernprozesse mehren. Diese offene Haltung ist maßgebend für das Forschen in Wissenschaft und Praxis und für das Bauen von Brücken zu einem Vereinten Europa in Freiheit und Gerechtigkeit. Danach sehnen sich viele Menschen. Sie streben durch ihre grenzüberschreitenden Aktivitäten eine Europäische Identität an und wollen – fern großer Worte – „Europa eine Seele“ geben. Mein Beitrag auch.

Literatur

Albrecht, F./Bürli, A./Erdélyi, A. (Hrsg.) (2006): Internationale und vergleichende Heil- und Sonderpädagogik. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 19-23

Amrein, C./Zászkaliczky, P. (1994): Die Sonderpädagogik im Prozess der europäischen Integration. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN), 63. Jg., VHN-Sonderheft

Bürli, A. (2006): Internationale Heilpädagogik: Ja gerne – nein danke! In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, 12. Jg., Heft 7/8, 7-13

Eco, U. (2000): Der immerwährende Faschismus. Vier moralische Schriften. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 37-69

Horňáková, M. (2015): Príbeh liečebnej pedagogiky. Katholische.Universität, Ružomberok

Klein, F. (2011): Heilpädagogische Verantwortung für den Menschen mit Behinderung im Epochenumbruch. In: Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie, 30. Jg., Heft 1/2,18-27

Klein, F. (2022): Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten. BHP, Berlin

Klein, F./Zászkaliczky, P. (2009): Entwicklung und Perspektiven der ungarischen Heilpädagogik im europäischen Kontext. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 60. Jg., Heft 1, 11-19

Lepenies, W: (2006): Kultur und Politik. Deutsche Geschichten. Hanser, München/Wien

Popper, K. R. (1994): Alles Leben ist Problemlösen. Über Erkenntnis, Geschichte und Politik. Piper, München/Zürich

Zászkaliczky, P. (2008): Heilpädagogik im zusammenwachsenden Europa. In: Biewer, G./Luciak, M. /Schwinge, M. (Hrsg.): Begegnung und Differenz. Menschen – Länder – Kulturen. Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 113-129


[1] Der komplette Text kann auf der Homepage des Internationalen Archivs für Heilpädagogik gelesen werden.

[2] Er starb am 06. Oktober 2023 im Altern von 84 Jahren.

Autor

Ferdinand Klein, Prof. Dr. phil. Dr. paed. et Prof. h. c., Erziehungswissenschaftler im Fachgebiet Heilpädagogik (Jg. 1934) arbeitete 20 Jahre als Erzieher, Heilpädagoge und Logotherapeut, lehrte und forschte an sechs Universitäten in Deutschland, Ungarn und der Slowakei im Geiste des polnischen Arztes und Reformpädagogen Janusz Korczak.

ferdi.klein2@gmail.com

Bericht von den Studientagen der Evangelischen Hochschule Nürnberg im Internationalen Archiv

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Der aktuelle Vorstand stellt sich vor

Sehr geehrte Mitglieder,

aufgrund des Rücktritts aus dem Vorstand von Gabriela Zenker und Heinrich Greving fanden anlässlich der ordentlichen Mitgliederversammlung des Fördervereins am 07. Oktober 2023 Nachwahlen zum Vorstand statt.

Hier stellt sich Ihnen nun der alte/neue Vorstand vor:

1. Vorsitzender: Dr. Martin Korte

Lic. phil., Diplom Heilpädagoge, Gründungsmitglied, Tätigkeit im Vorstand seit 2017, davor im Kuratoriums von 2013 bis 2017.

2. Vorsitzender: Prof. i.R. Dr. Dieter Lotz

Diplom Pädagoge, Diplom Heilpädagoge und Logotherapeut, Gründungsmitglied, Tätigkeit im Vorstand seit 2012.

Vorstand: Doris Albert

Heilpädagogin, Gründungsmitglied, Beratung des Vorstands vom März 2022 bis Oktober 2023.

Vorstand: Hildegard Havenith

Diplom Pädagogin, Diplom Heilpädagogin und Kindertherapeutin, Mitglied des Kuratoriums von 2017 bis 2023.

Die Vorstandsperiode endet im Herbst 2025.

Veranstaltungshinweis

Hiermit möchten wir Sie gerne auf die Tagung der Fachakademie für Sozialpädagogik (bfz) Ingolstadt und der Deutschen Korczak Gesellschaft e.V. „Demokratie lernen – ist Demokratie leben! Janusz Korczak als Vorbild“ am 28. Oktober 2023 hinweisen.

Anmeldungen werden bis zum 28.09.2023 entgegengenommen. Weitere Informationen zum Programm und den Inhalten finden Sie im Flyer (Klick zum Download).

Korczaks Pädagogik gilt vielen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen als Inspiration und Vorbild. Ein eindrückliches Beispiel gibt unsere Publikation „Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten“ von Ferdinand Klein, die Sie bei uns bestellen können.

Ausschreibung: Förderpreis 2024

Zum sechsten Mal lobt das Internationale Archiv für Heilpädagogik in Kooperation mit dem Berufs- und Fachverband für Heilpädagogik (BHP) den Förderpreis für herausragende Abschlussarbeiten aus dem Feld der Heilpädagogik aus.

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Heilpädagogische Begleitung von Inklusionsprozessen in der Kita mit Büchern

Pädagoginnen und Pädagogen sind im Kita-Alltag mit dem Thema der Inklusion immer wieder neu gefordert, weil sich das Lernen der Kinder beim Umgang mit Unterschiedlichkeit und Anderssein überwiegend an Vorbildern orientiert.

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In Gedenken an Otto Speck

Der Förderverein des Internationalen Archivs für Heilpädagogik und der Fach- und Berufsverband Heilpädagogik trauern um ihn mit allen Menschen, die sich ihm und der Heilpädagogik verbunden fühlen.

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Der drohenden Resonanztaubheit die Stirn bieten

von Ferdinand Klein

Der heute viel diskutierte Soziologe und Sozialphilosoph Hartmut Rosa (geb. 1965) wendet sich dem unverfügbaren zwischenmenschlichem Raum zu. Er sieht in dem Begriff Resonanz eine Möglichkeit zu dem Innenleben des anderen Menschen zu finden, mit ihm ein In-Beziehung-Treten zu pflegen durch wechselseitiges inneres Berühren für ein gelingendes Leben. Gelingt dies nicht, dann beginnt eine Entfremdung.

Hartmut Rosa erkennt, dass heute die Sinnressource zunehmend austrocknet und Menschen in eine Sinnkrise führen kann. Erwachsene und Kinder erfahren aber ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie sich mit der Welt und besonders mit anderen Menschen, mit ihrer Arbeit und ihrer Umgebung verbunden fühlen und in diesem Resonanzraum danach handeln. Anders gesagt: wenn sie Resonanz erleben und die Welt zu ihnen spricht.

Versuchen wir die Entwicklung eines Kindes auf der Grundlage der mir bekannten Erkenntnisse aus den Humanwissenschaften auf den Punkt zu bringen, dann können wir sagen: Jedes Kind wächst von Beginn an in die sozialen Regeln seiner Mitwelt hinein, lernt diese immer besser zu verstehen und einzuhalten, ebenso gestaltet es diese aus eigener Initiative mit, sofern seinem Bedürfnis nach Resonanz, nach einfühlender Antwort, nach Anerkennung und Achtung seiner individuellen Entwicklung entsprochen wird. Hier gestaltet es im sozialen Miteinander seine Entwicklung und die Entwicklung seiner Mitwelt mit.

Der drohenden Entfremdung die Stirn bieten

Rosa fragt nach den verschiedenen Möglichkeiten der Weltbeziehung des Menschen in der Geschichte. Er erkennt, dass unser Zeitalter davon geprägt ist, die Welt kontrollierbar, beherrschbar und verfügbar zu machen. Die Welt soll ökonomisch, technisch, wissenschaftlich, rechtlich und politisch berechenbar und steuerbar gemacht werden. Dieser Prozess ist stabil zu erhalten. Das kann aber nur dann gelingen, wenn er beschleunigt, wenn er also wächst und optimiert wird. Hier ist ein Verhalten des Menschen gefordert, das von äußeren Dingen bestimmt wird und den zwischenmenschlich mitschwingenden Raum (Resonanzraum) verkümmern lässt. Und der Mensch wird „resonanztaub“. Rosa entlarvt den folgenschweren Irrtum der „kapitalistischen Warenwelt“, die in ihrem endlosen Verfügbarmachen ein Glücksversprechen ankündigt, das sich nicht erfüllen kann, da diese verfügbare Welt mehr und mehr unlesbar und stumm zu werden scheint. Warum? Weil die Dinge und Zusammenhänge, über die wir verfügen, die wir beherrschen und bestimmen, die zwischenmenschlich mitschwingende Qualität, also die Resonanzqualität verlieren.

Diese leere, graue und farblose Welt bezeichnet Rosa als „elementare Grundangst“ des Menschen: Die planbare, optimier- und berechenbare Beziehung zu Menschen und zur Welt erzeuge eben Angst vor dem Fremden. Sie kann zu persönlichen Krisen, Kontaktlosigkeit, Entfremdung und inneren Leere führen. Aber eine mitschwingende Beziehung zur Welt wird erst durch das Einlassen auf Fremdes, auf Nicht-Planbares, Unvorhersehbares und Unverfügbares möglich, das den Menschen berührt und wandelt.

Potenzial der Religion und Kirche für unsere Zukunft in der Demokratie

Diesen Fragen, die für die von mir vertretene Heilpädagogik grundlegend sind, wendet sich Rosa in einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022 zu. Auf die „Liebe zum Leben“ weist er in diesem sozialphilosophischen Plädoyer zur Demokratiestärkung hin: In einfacher und gehaltvoller Sprache fragt Rosa im SPIEGEL-Bestseller-Buch „Demokratie braucht Religion“, nach dem Potenzial der Religion und Kirche für unsere Zukunft in der Demokratie und erkennt das Urphänomen des zwischenmenschlichen Miteinanders.

Rosa beschreibt die heutige Gesellschaft mit dem Begriff des „rasenden Stillstandes“. Darin drückt er zwei Dinge aus, nämlich, dass die Gesellschaft rast und zum anderen verharrt sie oder ist bereits erstarrt. Er erkennt: Wenn eine Gesellschaft gezwungen wird, sich ständig zu steigern, zu beschleunigen, sich voranzutreiben, aber den Sinn dieses Vorwärtsbewegen verliert, dann ist sie in einer Krisensituation. Sie hat nicht mehr den Sinn dafür, zu einem guten Leben zu finden, zu einem gelingenden Verhältnis zur Welt.

Wir haben nicht mehr das Gefühl, dass wir auf eine verheißungsvolle Zukunft zugehen, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, der uns von hinten einholt. Das meint Rosa mit dem Begriff des rasenden Stillstandes: Wir müssen jedes Jahr schneller laufen, um nicht in den Abgrund, der hinter uns immer schneller, immer näher kommt – nicht zuletzt wegen der Klimakrise – abzustürzen.

Es geht Rosa um eine Weltbeziehung, aus der oder in der eine religiöse Praxis entsteht. Für ihn hat Religion die Kraft dazu: Religion hat mit ihren Gesten, Praktiken und Meditieren, mit ihren Liedern, Rhythmen und Räumen einen Ideenreichtum für einen Sinn dafür, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, also in Resonanz zu sein. Sein Schlusswort lautet: „Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie dieseForm der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“

Fazit

Für Rosa ist Demokratie das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber sie erfordert eben Stimmen, Ohren und hörende Herzen.

Univ.Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein

Der Beitrag ist ebenfalls auf karpatenblatt.sk erschienen.

Förderpreisverleihung 2022

Die Verleihung der Förderpreise für herausragende Abschlussarbeiten der Heilpädagogik 2022 fand am 21.10. im Internationalen Archiv in Trebnitz statt. Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Archivs sowie des BHPs, Mitglieder des Kuratoriums, Vertreter*innen von Fach- und Hochschulen und natürlich die beiden Preisträgerinnen, Elena Michel und Sabine Croll nahmen an der Preisverleihung teil. Nach der Begrüßung durch die Archivleiterin führte Dr. Martin Korte (Vorstand des Fördervereins) durch den Abend. Die Laudationes hielten Antje Kronberg (Kuratorium) und Dr. Dieter Lotz (Vorstand des Fördervereins), die die Preisträgerinnen im Anschluss auch kurz interviewten.

Die Preisträgerinnen 2022 v.l.: Elena Michel und Sabine Croll

Nachdem das Glas auf die Preisträgerinnen erhoben wurde fand sich die Festgemeinschaft im Langen Saal des Schloss Trebnitz ein. Dort erwartete Sie nach dem festlichen Abendessen eine kleines Überraschungskonzert. Eine Gruppe Kinder aus Deutschland und Polen sang mehrere in einem Projekt einstudierte Lieder für das versammelte Publikum, das lautstark eine Zugabe forderte – sie wurden nicht enttäuscht.
Abschließend gingen alle wieder in das Archiv zurück und nutzten die Gelegenheit das Archiv zu besichtigen und intensive Gespräche zu führen.

Überraschungskonzert im Langen Saal

Die Abschlussarbeit „Ich bin einzigartig.“ Heilpädagogische Stärkenarbeit mit einem traumatisierten Jugendlichen von Sabine Croll erscheint im BHP-Verlag.

Die Abschlussarbeit Familienorientierung in der Heilpädagogik. Überlegungen zur Beratung von Eltern behinderter Kinder. Von Elena Michel können Sie unter info@archiv-heilpaedagogik.de bestellen.