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Der drohenden Resonanztaubheit die Stirn bieten

von Ferdinand Klein

Der heute viel diskutierte Soziologe und Sozialphilosoph Hartmut Rosa (geb. 1965) wendet sich dem unverfügbaren zwischenmenschlichem Raum zu. Er sieht in dem Begriff Resonanz eine Möglichkeit zu dem Innenleben des anderen Menschen zu finden, mit ihm ein In-Beziehung-Treten zu pflegen durch wechselseitiges inneres Berühren für ein gelingendes Leben. Gelingt dies nicht, dann beginnt eine Entfremdung.

Hartmut Rosa erkennt, dass heute die Sinnressource zunehmend austrocknet und Menschen in eine Sinnkrise führen kann. Erwachsene und Kinder erfahren aber ihr Leben dann als sinnvoll, wenn sie sich mit der Welt und besonders mit anderen Menschen, mit ihrer Arbeit und ihrer Umgebung verbunden fühlen und in diesem Resonanzraum danach handeln. Anders gesagt: wenn sie Resonanz erleben und die Welt zu ihnen spricht.

Versuchen wir die Entwicklung eines Kindes auf der Grundlage der mir bekannten Erkenntnisse aus den Humanwissenschaften auf den Punkt zu bringen, dann können wir sagen: Jedes Kind wächst von Beginn an in die sozialen Regeln seiner Mitwelt hinein, lernt diese immer besser zu verstehen und einzuhalten, ebenso gestaltet es diese aus eigener Initiative mit, sofern seinem Bedürfnis nach Resonanz, nach einfühlender Antwort, nach Anerkennung und Achtung seiner individuellen Entwicklung entsprochen wird. Hier gestaltet es im sozialen Miteinander seine Entwicklung und die Entwicklung seiner Mitwelt mit.

Der drohenden Entfremdung die Stirn bieten

Rosa fragt nach den verschiedenen Möglichkeiten der Weltbeziehung des Menschen in der Geschichte. Er erkennt, dass unser Zeitalter davon geprägt ist, die Welt kontrollierbar, beherrschbar und verfügbar zu machen. Die Welt soll ökonomisch, technisch, wissenschaftlich, rechtlich und politisch berechenbar und steuerbar gemacht werden. Dieser Prozess ist stabil zu erhalten. Das kann aber nur dann gelingen, wenn er beschleunigt, wenn er also wächst und optimiert wird. Hier ist ein Verhalten des Menschen gefordert, das von äußeren Dingen bestimmt wird und den zwischenmenschlich mitschwingenden Raum (Resonanzraum) verkümmern lässt. Und der Mensch wird „resonanztaub“. Rosa entlarvt den folgenschweren Irrtum der „kapitalistischen Warenwelt“, die in ihrem endlosen Verfügbarmachen ein Glücksversprechen ankündigt, das sich nicht erfüllen kann, da diese verfügbare Welt mehr und mehr unlesbar und stumm zu werden scheint. Warum? Weil die Dinge und Zusammenhänge, über die wir verfügen, die wir beherrschen und bestimmen, die zwischenmenschlich mitschwingende Qualität, also die Resonanzqualität verlieren.

Diese leere, graue und farblose Welt bezeichnet Rosa als „elementare Grundangst“ des Menschen: Die planbare, optimier- und berechenbare Beziehung zu Menschen und zur Welt erzeuge eben Angst vor dem Fremden. Sie kann zu persönlichen Krisen, Kontaktlosigkeit, Entfremdung und inneren Leere führen. Aber eine mitschwingende Beziehung zur Welt wird erst durch das Einlassen auf Fremdes, auf Nicht-Planbares, Unvorhersehbares und Unverfügbares möglich, das den Menschen berührt und wandelt.

Potenzial der Religion und Kirche für unsere Zukunft in der Demokratie

Diesen Fragen, die für die von mir vertretene Heilpädagogik grundlegend sind, wendet sich Rosa in einem Vortrag beim Würzburger Diözesanempfang 2022 zu. Auf die „Liebe zum Leben“ weist er in diesem sozialphilosophischen Plädoyer zur Demokratiestärkung hin: In einfacher und gehaltvoller Sprache fragt Rosa im SPIEGEL-Bestseller-Buch „Demokratie braucht Religion“, nach dem Potenzial der Religion und Kirche für unsere Zukunft in der Demokratie und erkennt das Urphänomen des zwischenmenschlichen Miteinanders.

Rosa beschreibt die heutige Gesellschaft mit dem Begriff des „rasenden Stillstandes“. Darin drückt er zwei Dinge aus, nämlich, dass die Gesellschaft rast und zum anderen verharrt sie oder ist bereits erstarrt. Er erkennt: Wenn eine Gesellschaft gezwungen wird, sich ständig zu steigern, zu beschleunigen, sich voranzutreiben, aber den Sinn dieses Vorwärtsbewegen verliert, dann ist sie in einer Krisensituation. Sie hat nicht mehr den Sinn dafür, zu einem guten Leben zu finden, zu einem gelingenden Verhältnis zur Welt.

Wir haben nicht mehr das Gefühl, dass wir auf eine verheißungsvolle Zukunft zugehen, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, der uns von hinten einholt. Das meint Rosa mit dem Begriff des rasenden Stillstandes: Wir müssen jedes Jahr schneller laufen, um nicht in den Abgrund, der hinter uns immer schneller, immer näher kommt – nicht zuletzt wegen der Klimakrise – abzustürzen.

Es geht Rosa um eine Weltbeziehung, aus der oder in der eine religiöse Praxis entsteht. Für ihn hat Religion die Kraft dazu: Religion hat mit ihren Gesten, Praktiken und Meditieren, mit ihren Liedern, Rhythmen und Räumen einen Ideenreichtum für einen Sinn dafür, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, also in Resonanz zu sein. Sein Schlusswort lautet: „Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie dieseForm der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“

Fazit

Für Rosa ist Demokratie das zentrale Glaubensbekenntnis unserer Gesellschaft, aber sie erfordert eben Stimmen, Ohren und hörende Herzen.

Univ.Prof. Dr. Dr. et Prof. h.c. Ferdinand Klein

Der Beitrag ist ebenfalls auf karpatenblatt.sk erschienen.

Förderpreisverleihung 2022

Die Verleihung der Förderpreise für herausragende Abschlussarbeiten der Heilpädagogik 2022 fand am 21.10. im Internationalen Archiv in Trebnitz statt. Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Archivs sowie des BHPs, Mitglieder des Kuratoriums, Vertreter*innen von Fach- und Hochschulen und natürlich die beiden Preisträgerinnen, Elena Michel und Sabine Croll nahmen an der Preisverleihung teil. Nach der Begrüßung durch die Archivleiterin führte Dr. Martin Korte (Vorstand des Fördervereins) durch den Abend. Die Laudationes hielten Antje Kronberg (Kuratorium) und Dr. Dieter Lotz (Vorstand des Fördervereins), die die Preisträgerinnen im Anschluss auch kurz interviewten.

Die Preisträgerinnen 2022 v.l.: Elena Michel und Sabine Croll

Nachdem das Glas auf die Preisträgerinnen erhoben wurde fand sich die Festgemeinschaft im Langen Saal des Schloss Trebnitz ein. Dort erwartete Sie nach dem festlichen Abendessen eine kleines Überraschungskonzert. Eine Gruppe Kinder aus Deutschland und Polen sang mehrere in einem Projekt einstudierte Lieder für das versammelte Publikum, das lautstark eine Zugabe forderte – sie wurden nicht enttäuscht.
Abschließend gingen alle wieder in das Archiv zurück und nutzten die Gelegenheit das Archiv zu besichtigen und intensive Gespräche zu führen.

Überraschungskonzert im Langen Saal

Die Abschlussarbeit „Ich bin einzigartig.“ Heilpädagogische Stärkenarbeit mit einem traumatisierten Jugendlichen von Sabine Croll erscheint im BHP-Verlag.

Die Abschlussarbeit Familienorientierung in der Heilpädagogik. Überlegungen zur Beratung von Eltern behinderter Kinder. Von Elena Michel können Sie unter info@archiv-heilpaedagogik.de bestellen.

Ferdinand Klein – Mit Janusz Korczak die Heilpädagogik gestalten

Zur Erinnerung an seinen 80. Todestag

Band 7 der Wissenschaftlichen Reihe ist eine Sonderausgabe zur Erinnerung an den 80. Todestag Janusz Korczaks am 05. August 1942. In ihr beschreibt der Autor wie ihn die Persönlichkeit und Pädagogik Korczaks in seinem heilpädagogischen Handeln inspiriert und beeinflusst hat. Er zeigt an verschiedenen praktischen Beispielen, wie diese Erkenntnisse wirken und in aktuellen Praxisfeldern umgesetzt werden können. In den Beschreibungen wird der Einfluss weiterer Persönlichkeiten u.a. aus Kunst, Pädagogik und Psychologie deutlich, die Korczak und den Autor jeweils auf ihrem heilpädagogischen Weg prägten.

ISBN: 978-3-942484-49-7 | 131 Seiten | Preis: 15,-€
Internationales Archiv für Heilpädagogik 2022


Eine Rezension zu diesem Werk von Armin Krenz können Sie über diesen Link abrufen.
Eine weitere Rezension von Dr. Götz Kaschubowski finden Sie hier.



Fortbildung „Heilpädagogische Begleitung von Inklusionsprozessen mit Büchern für Kinder“

Am 20.09.2022 wurde zum dritten Mal eine Fortbildung des Internationalen Archivs für Heilpädagogik, Trebnitz, in Berlin-Hohenschönhausen durchgeführt. Auf Einladung des Trägers Kindergärten NordOst fand die Veranstaltung in dessen Berufs- und Begegnungszentrum statt. ...

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Neues im Bestand: Ein Einblick in den Vorlass von Prof. Dr. Fornefeld

Im Mai 2022 übergab Prof. Dr. Fornefeld, die bis 2019 an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Departement für Heilpädagogik und Rehabilitation lehrte, ein umfangreiches Teilkonvolut an das Internationale Archiv für Heilpädagogik. Darin befinden sich verschiedenste Materialien und Medien, die nicht nur das eigene berufliche Schaffen dokumentieren, sondern auch die Tätigkeiten ihres Vaters Ernst Preis.

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Übergabe an Fachbibliothek von Prof. Dr. Dietrich Eggert und weitere Spende

Prof. Dr. Dietrich Eggert war Professor Emeritus für Psychologie der Behinderten an der Leibniz Universität Hannover. Er hat mehr als 40 Jahre lang für die Weiterentwicklung des schulischen Systems für Kinder mit Behinderungen eingesetzt. Hierfür hat er u.a. zahlreiche förderdiagnostische Materialien und Konzepte entwickelt. Zuletzt hat er die “Dietrich Eggert Stiftung für schulische Inklusion” gegründet, die sich für den Ausbau eines inklusiven Schulsystem (inklusionssensible Diagnostik, Förderung und Schulentwicklung) in Deutschland einsetzt (https://www.dietrich-eggert-stiftung.de/). Herr Prof. Dr. Eggert hat dankenswerterweise einen Großteil seiner nationalen und internationalen Bücher dem Internationalen Archiv für Heilpädagogik bereits im Jahr 20221 übergeben.

Das Archiv dankt ebenso für Spende einer Reihe Lexika von Familie Kraemer aus Dortmund.

Buchempfehlung

"Es ist Ferdinand Klein zu danken, dass er auch komplexe Zusammenhänge in einer Sprache formuliert, die jede*n mitnimmt, ohne dass der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verloren geht.

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Neue Amtszeiten für Vorstand und Kuratorium

Schon vor einigen Wochen, genauer am 24. und 25. September 2021, versammelten sich der Vorstand, die Kuratorinnen und Kuratoren des Archivs zur jährlichen Herbstsitzung. Am Freitag fand zusätzlich die Mitgliederversammlung des Fördervereins statt.

Im Fokus der Mitgliederversammlung standen der Jahresbericht des Vorstands und der Archivleitung sowie die Vorstandswahlen. Gabriela Zenker (Vorsitz), Prof. Dr. Heinrich Greving, Dr. Martin Korte und Prof. Dr. Dieter Lotz stellten sich zur Wahl und wurden von der Versammlung gewählt.

Wolfgang v. Gulijk wird das Internationale Archiv für Heilpädagogik von nun an als Mitglied des Kuratoriums unterstützen.

Kuratoriumssitzung: v.l. Dr. Martin Korte, Doris Albert, Wolfgang v. Gulijk, Dagmar Gumbert und Anna Scott-Kobi.


Am darauf folgenden Samstag berief der Vorstand das Kuratorium für die neue Amtszeit. Berufen wurden:

Prof. Dr. Konrad Bundschuh,
Prof. Dr. Sieglind Ellger-Rüttgardt,
Dagmar Gumbert,
Wolfgang v. Gulijk,
Hildegard Havenith,
Antje Kronberg,
Cathy Mangen (LU),
Prof. Dr. Xavier Moonen (NL),
Jean-Paul Muller (I),
Annette Paltzer (CH) (Sprecherin),
Prof. Dr. Christina Reichenbach,
Anna Scott-Kobi (CH),
Johannes Wolter und
Barbara Wüst.

Dieter Grigo stellte sich nicht für eine weitere Amtszeit im Kuratorium zur Verfügung. Wir danken für seine langjährige Tätigkeit und Unterstützung im Kuratorium des Internationalen Achivs für Heilpädagogik!

Vergessene Vulnerabilität – Anthropologie der Verletzbarkeit

Die Coronapandemie rückt die Frage der Verletzbarkeit des Menschen in den Vordergrund täglichen Denkens, Fühlens und Handelns. Ständig werden wir sowohl durch die Medien als auch durch persönliche Begegnungen, durch digitale und sonstige Kommunikation mit dieser Problematik tangiert.

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Buchbesprechungen zu: Bewegung, Spiel und Rhythmik

Drei unverzichtbare Elemente in der inklusiven Kita-Praxis
Ferdinand Klein (2021)

Kartoniert, 176 Seiten
Preis: 19,95 Euro
Dortmund: verlag modernes lernen
ISBN 978-3-8080-0901-7

Dass das Spiel einen, wenn nicht den entscheidenden Faktor zur individuellen Eroberung der Welt durch das kleine Kind darstellt, gilt heute geradezu als Binsenweisheit in der Pädagogik.

Spielen ermöglicht es aber auch gemeinsam Erfahrungen zu machen. So hat schon der amerikanische Reformpädagoge John Dewey darauf verwiesen, dass das gemeinsame Spiel behinderter und nichtbehinderter Kinder den Kern dessen bildet, was er demokratische Erziehung nennt (Heimlich 2003).

Diese Gedanken präzisiert Ferdinand Klein in seinem neuesten Buch. Gemeinsames Bewegen, sich an rhythmischen Elementen erfreuen und somit Welt gestalten, stellt für Klein den Anfang aller Bildung dar.

Leser*innen erfahren in den neun Kapitel viel zu Themen spezifischer Behinderungsbilder. Pädagogische Persönlichkeiten werden ihnen nahegebracht. Dabei dürfen Janusz Korczak und Mimi Scheiblauer natürlich nicht fehlen. Ferdinand Klein fühlt sich beiden in besonderer Weise verbunden. Es werden Methoden erörtert. Der Autor macht ganz praktische Vorschläge zur Gestaltung der Arbeit in der (inklusiven) Kita. Und ganz nebenbei kann man die Braille-Schrift kennen lernen oder sich anfänglich mit TEACCH auseinandersetzen.

Besonders wichtig sind dem alten Heilpädagogen zwei Aspekte der Arbeit mit und für Kinder:

Liebe Erzieherin, gib’ dem Kind Raum. Lass es sich selbst entwickeln.
Liebe Erzieherin, Entwicklungsbegleitung kleiner Kinder heißt sich selbst zu erziehen.
Wie schaust Du auf die Kinder, die sich Dir anvertrauen. Wie kommst Du zu Erkenntnissen? Hast Du feste Vorstellungen und Bilder von ihnen oder bist Du auf dem Weg zu ihnen?

Wie bereits in seinen letzten Veröffentlichungen verzichtet Klein auf einen abgehobenen Sprachduktus. Er schreibt – ohne dabei seinen wissenschaftlichen Anspruch zu verlieren – so, dass seine Ideen und Gedanken verstanden werden.

Man darf das Fachbüchlein (160 Seiten) Studierenden der (Heil-)Pädagogik, Fachschüler*innen und Eltern als Grundlagenliteratur empfehlen. Erzieher*innen, finden hier einen reichen Fundus für ihre tägliche Arbeit mit den Kindern vor.

Götz Kaschubowski





Eine weitere Besprechung zum Titel Bewegung, Spiel und Rhythmik von Maximilian Buchka steht Ihnen als Download hier zur Verfügung.