Konrad Bundschuh

Die Coronapandemie rückt die Frage der Verletzbarkeit des Menschen in den Vordergrund täglichen Denkens, Fühlens und Handelns. Ständig werden wir sowohl durch die Medien als auch durch persönliche Begegnungen, durch digitale und sonstige Kommunikation mit dieser Problematik tangiert. Hatten wir auch im Zusammenhang mit einem Perfektions- und Machbarkeitsdenken sowie einer häufig vorherrschenden Optimierungssucht Vulnerabilität verdrängt?
Vom pränatalen Stadium bis zum Tod erweist sich der Mensch als in unkalkulierbarem Maße bedroht, physisch, mental und psychisch verletzbar. Das Streben des Menschen zielt zwar in immer stärkerem Maße
nach Sicherheit, Strukturierung und auch Berechenbarkeit etwa in den Bereichen Gesundheit, Finanzen,
Wohnen, Politik, Frieden, gleichzeitig werden aber Unsicherheiten, Ängste bis zur Verzweiflung gerade in
der heutigen Zeit transparent wie selten zuvor.
Obgleich wir die Probleme an sich „im Griff“ zu haben scheinen, erweisen sich sowohl Fragen zu Aids,
zu Krankheiten wie Krebs, Kreislauf- und Herzinsuffizienzen, ja zu bestimmten Formen von Grippeerkrankungen, Corona, die Beschäftigungssituation der Menschen, Armut, Ernährung der Weltbevölkerung, Orkane, Hochwasserkatastrophen bis hin zu den Finanzmärkten als auch die Fragen nach der Zukunft nicht nur herausfordernd, sondern geradezu als bedrohlich. Im Zusammenhang mit Vermehrung und Ernährung der Weltbevölkerung, Weltproblemen, Umweltverschmutzung, Bildungs- und Erziehungsfragen, Behinderungen, Globalisierung, Atomindustrie und atomarer Bewaffnung fühlen wir uns fast schon ohnmächtig.
Das Streben nach Sicherheit und Funktionieren ist in der Vergangenheit so dominant geworden, dass die
meisten Menschen Vulnerabilität menschlichen Seins nicht oder nicht mehr wahrnehmen wollten, geradezu verdrängten. Wir leben in einer Zeit der qualitativen und quantitativen „Optimierungssucht“. In den Schlagworten „höher, schneller, weiter, besser“, drückt sich dies aus. Dabei gehen wir zweifellos mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Situation des Behindert Seins mit zunehmendem Alter entgegen. „Normalbiographie“ kann sich auch angesichts der Coronapandemie schnell aufgrund von Erfahrungen, Informationen und eigener Betroffenheit in eine „Bruchbiographie“ wandeln. Manchmal leben wir in der Gegenwart mit dem Gefühl, uns in einer Art „Drahtseilbiographie“ zu bewegen. Dies alles belastet uns Menschen. Wie gehen wir damit um?

Etwa 35 % aller Menschen über 65 Jahren gelten als mittel bis schwer behindert, bedürfen permanenter
Unterstützung, ja teilweise der Pflege. Sowohl aus der Situation von einer Behinderung betroffener
Kinder, Jugendlicher und Erwachsener als auch aus der Erkenntnis der Vulnerabilität während
der gesamten Lebensspanne betrachtet, bedarf die Problematik Krankheit und Bedroht-Sein von einer
Krankheit einer neuen Reflexion, Betrachtung und Bewertung.
Jeder Mensch ist in jeder Sekunde seines Lebens von Krankheit, Behinderung, ja vom Tode bedroht. Erst
recht wissen wir noch viel zu wenig über das wirkliche Leben, über die Lebenswirklichkeit und Lebensqualität von Menschen mit einer – schweren – Erkrankung oder Behinderung, über deren subjektives Empfinden, über ihre wirklichen geistigen, emotionalen und sozialen Prozesse, über die Art und Weise, wie sie ihr eigenes Leben empfinden, wahrnehmen und meistern. Erst jetzt beginnen WissenschaftlerInnen mehr oder weniger systematisch mit der Erforschung der subjektiven Befindlichkeit von Krankheit und Behinderung betroffener Menschen.

Wir Menschen existieren und als solche sind wir vielseitig, ja in unkalkulierbarer Weise in mehr oder weniger hohem Maße im körperlichen, geistigen, emotionalen und auch sozialen Bereich verletzbar oder
vulnerabel. Diese Erkenntnis dürfen wir nicht aus unserem Bewusstsein verdrängen, vielmehr sollte sie
auch in den Wissenschaftsbereichen Medizin, Psychologie, Anthropologie, Theologie, Heilpädagogik etc.
eine größere Rolle spielen.
Im Zusammenhang mit Corona gibt es Anzeichen dafür, dass Vulnerabilität auch zu einem neuen Verstehen von Menschen führen, Impulse zu mehr Hilfsbereitschaft, sozialer Fürsorge, gegenseitiger Achtung, Respektierung des Soseins anderer, Achtung der Menschenwürde, speziell auch zu einem neuen Verstehen von Menschen mit einer Krankheit und einer Behinderung freisetzen kann, weil wir uns über unser Bewusstsein, d. h. gedanklich in der heutigen Zeit doch stärker mit dem Phänomen Vulnerabilität auseinandersetzen und auch als möglichen Bestandteil, als wahrscheinliche Situation unseres eigenen Lebens betrachten müssen. Vulnerabilität gehört im Zusammenhang mit der Erkenntnis der Verletzbarkeit des Menschen und der prinzipiellen Bedrohung zu einem immanenten Bestandteil unseres Lebens. Dies mag zunächst zur existentiellen Verunsicherung führen, kommt aber der Wahrheit näher als das Denken in
vermeintlichen Sicherheiten, wie sie die Werbung und der Perfektionsgedanke suggerieren. In diesem Kontext ist Leben im Sinne von Hineinfinden in die eigene Menschlichkeit und des Erlebens und Erfahrens von Grenzen, die freilich auch teilweise überwunden und erweitert werden können, notwendig.
Das Heil im Hedonismus und auch im Pluralismus zu suchen, wäre fatal und gefährlich. Dies könnte alles
und nichts bedeuten, also brauchen wir neue Zielvorstellungen darüber, wie wir als mögliche und tatsächlich Betroffene mit der Vorstellung und Erfahrung von Krankheiten sowie Behinderungen und Bedrohungen an sich umgehen, vielleicht auch diese Situationen und Wahrnehmungen erträglicher machen. Vor allem Menschen im Krankheitszustand, aber auch die Gesunden dürfen wir nicht ausschließen und wegsperren bzw. fast schon total isolieren, vielmehr müssen wir ihnen auch durch Verstehen, Kommunikation und Handeln die Gewissheit geben, dass sie nicht vergessen werden. Wir müssen psychisches und physisches Unwohlsein, Ängste und Probleme von Menschen sehr ernst nehmen.

Heilpädagogik als dialogisch-helfende Beziehungsgestaltung

Im Mittelpunkt der Geschichte der Heilpädagogik stehen Scheitern und Neuanfang in der Erziehung.
Heilpädagogik begibt sich auf die Suche nach neuen Wegen, wenn Erziehungs- und Lernprozesse nicht in
Gang kommen, ins Stocken geraten oder vorzeitig abbrechen (vgl. Bundschuh 2010, 19–32).
Es geht primär um eine – neue – heilpädagogische Sinnorientierung (Palfi-Springer 2019) von Kindern
und Jugendlichen, die in vor-, außer- und nachschulischen Handlungsfeldern aufgrund von Behinderung,
Erziehungsfehlern sowie institutionellem Zwang und Druck in eine Problemsituation geraten sind.
Unter Berücksichtigung der Bedeutung und der Geschichte des Begriffs Heilpädagogik geht es um ein
behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen
Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und
Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und seine Realisierung in der dialogisch-helfenden Beziehungsgestaltung wird bedeutsam (vgl. Kobi 2010). Im Kontext Heilpädagogik handelt es sich um eine verstehende Haltung und Erziehung, die auf der Basis von Fachkompetenz etwas Zusätzliches in qualitativer, teilweise auch in quantitativer Hinsicht bedeuten.
Darüber hinaus zeichnet Heilpädagogen und Heilpädagoginnen eine innere Haltung aus, die das Tun und
Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich Lösungen finden oder Erfolge einstellen. Der Begriff
Heilpädagogik wird hier auch verwendet im Sinne von ,,kinderorientierter Pädagogik”. Dazu gehört ein Menschenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit akzeptiert, achtet und ernst nimmt, eine pädagogisch-philosophische Orientierung, die, ausgehend von den jeweils individuellen Möglichkeiten sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes, vor allem auch die ureigenen Möglichkeiten wie Emotionen, Ressourcen, Kompetenzen unterstützt sowie fördert und nicht – nur – Anpassungsverhalten. Es geht dabei keinesfalls um die Erziehung nach einem Menschenbild, wie es z. B. Religionen, staatliche Systeme, vielleicht auch manche LehrerInnen an Gymnasien vermitteln. Es gibt für die Einzigartigkeit eines Kindes kein Vorbild oder gar Muster. Eine Erzieherin bzw. ein Erzieher, die/der ein Kind nach einem bestimmten Menschenbild erzieht, missbraucht an sich ihre/seine „Vollmacht“ zu erziehen (vgl. Möckel 2019, 101). Urs Haeberlin hebt die „Gefahren von nicht-bewussten Menschenbil-dern“ (1994, 18ff.) hervor und skizziert diese anhand von Beispielen im Kontext „Alltagstheorien“.
Kein Zweifel, wir machen uns ein Bild von Menschen und von Menschengruppen, aber wir müssen uns
immer wieder die Frage stellen, welches allgemeine Menschenbild habe ich und welches Bild von diesem
oder jenem Kind mit Lern- und Verhaltensproblemen. Ein Menschenbild bildet auch die Grundlage unseres Tuns und Erkennens, aber wir müssen sehen, dass im Alltag ein Bild von einem Kind mit einer Behinderung, einer Lernproblematik, ein Kind, das vielleichtunter behindernden sozialen und materialen Bedingungen aufgewachsen ist und von seinen LehrerInnen als „lerngestört“ oder „verhaltensgestört“ bezeichnet wird, viele Aspekte von Vorurteilen aufweisen kann.
Auch die im Arbeitsfeld Heilpädagogik tätigen Personen unterliegen der Gefahr, dass sie durch Theorien
oder durch Meinungen anderer Personen, etwa eine rein traditionell medizinische Sichtweise (vgl. Bundschuh 2019a, 47–51), auch durch Geschriebenes wie z.B. Schülerakte und Gutachten, zu Meinungen kommen, die anthropologisch betrachtet nicht haltbar sind. Ein kritisches und gut reflektiertes, gleichzeitig
offenes Menschenbild ist notwendig.

Wahrnehmen, Verstehen und Handeln

Heilpädagogik steht gleichermaßen im Dienste der Kinder und Eltern, die im Rahmen von Erziehung und
auch Unterricht traditioneller Art in eine Problemsituation geraten sind. Es geht der Heilpädagogik vor
allem um ein Wahrnehmen und Verstehen dieser Problemsituation und um adäquates Handeln. Reichtum
einerseits und alarmierende Zahlen über die Zunahme realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, alleinerziehenden Müttern und ausländischen Familien andererseits – gesellschaftliche Ausgrenzungen, der Kampf um elementare Menschenrechte und Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen –, diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen bilden einen wichtigen Ausgangspunkt des Nachdenken über Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung, Lernstörun-gen und Verhaltensproblemen, die häufig auch zusätzlich unter behindernden Bedingungen leben. Diese komplexen Herausforderungen generieren die Impulse zukünftiger heilpädagogischer Theorie- und Praxisentwicklungen.
Einerseits bedeutet Wahrnehmen die Aufmerksamkeit auf das So-Sein eines Menschen zu richten, ihn zu beachten, sein Leben in seiner speziellen Situation zu betrachten und zu analysieren, seine Lebenssituation
mit Blick auf Verstehen und Unterstützen zu reflektieren. Andererseits steht der Begriff ‚Wahrnehmung‘ für die Aktivitäten des Gehirns. Wahrnehmen ist ein Prozess, durch den sich der Mensch in Form von Informationsaufnahme über die Sinnesorgane und Reizverarbeitung im Gehirn Welt konstruiert und aneignet, wobei die eigene Aktivität der wahrnehmenden Person im Vordergrund dieses Vorganges steht (Bundschuh 2019b, 308–313). Das Informationsmaterial wird dabei so verarbeitet, dass für das Individuum auf der Basis emotionaler Prozesse immer wieder neu Bedeutung entsteht (ebd. 2003, 111ff., 147–152).
Wahrnehmung bildet somit die Grundlage für die Begegnungmit der Person- und Sachumwelt sowie dem
eigenen Selbst auf der Basis nahezu ständiger Bewertungen. Neuwahrnehmung heißt hier Möglichkeiten,
Fähigkeiten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher
Behinderungen und behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung eines/einer Klienten/Klientin zu stellen.
Welche Assoziationen sind mit dem Begriff Verstehen verbunden? Die moderne, rational orientierte Wissenschaft lehnt häufig mit scheinbar einsichtigen Begründen unsichere Begriffe wie beispielsweise ‚pädagogischer Bezug‘, ‚heilpädagogische Beziehung‘ und auch ‚Verstehen‘ ab. Mit Wahrnehmen und dem Versuch, zu verstehen, entwickelt sich allmählich ein Bild vom Gegenüber, vom Du (Buber 2006). Einen Menschen verstehen heißt, seinen bisherigen Weg gedanklich und empathisch nachvollziehen und ihn in seinem So-Sein annehmen – ihn also in seinem Werden und in den Bedingungen des Werdens verstehen (vgl. Bundschuh 2008, 71ff., 2010, 126–130). Es geht auch um eine Einstellung, die das Verhalten des Anderen und sein So-Sein achtet und akzeptiert, die unter Beachtung seiner Subjektivität versucht, ihn immer besser und vertiefter zu verstehen. Die sich dabei aufbauende Intersubjektivität impliziert, dass Heilpädagogen und Heilpädagoginnen die Welt des Anderen in seiner individuellen Lebenssituation begreifen oder zumindest bereit sind, in einen Prozess des Verstehenwollens und –lernens einzutreten. Vom Anderen her gesehen erweist sich jede Handlung, jede Art von Verhalten als sinn-voll. Insofern heißt Verstehen auch Achtung vor der Unerschließbarkeit und Unverfügbarkeit des Anderen (vgl. Bundschuh 2019a, 91-96). Heilpädagogisches Denken erfordert Flexibilität, Offenheit und Offensein für alle Möglich-keiten einer Lebensgeschichte, bereit sein, den von uns persönlich bevorzugten Standpunkt in Frage zu stellen. Für Heilpädagoginnen und -pädagogen ist dieses „Auf-dem-Wege-Sein“ (Moor 1974) wichtiger
als das Wissen um das Ziel. Es lässt sich fast ein triviales, allgemeines Ziel ableiten: die besondere Situation
eines Klienten/einer Klientin in einer Problemsituation fordert immer wieder aufs Neue zum Handeln auf.

Eine Handlung ist eine Einheit, bestehend aus einer äußeren manifesten Aktivität und einem inneren
kognitiv-emotionalen Anteil. Handeln ist oft soziales Handeln, insofern spielt der soziokulturelle Kontext
eine wichtige Rolle. Der Heilpädagogik geht es um Handeln und um die Handlungsfähigkeit im Rahmen
emotionaler, sozialer und geistiger Entwicklungen im Kontext ganzheitlicher Prozesse des Kindes und
Jugendlichen, vor allem um Erweiterung der Handlungsfähigkeit, Lebensgestaltung, Lebensqualität und
Autonomie. Der Mensch entwickelt und gestaltet seine Persönlichkeit in der erlebenden und handelnden
Begegnung mit der konkreten, in bestimmter Weise strukturierten und sich dynamisch verändernden Welt,
die wir als Alltagswirklichkeit bezeichnen. In diesem prozesshaften Geschehen liegt die Herausforderung
der Heilpädagogik. Sie trägt eine große Verantwortung und spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bildung, Ausbildung sowie Sinnfindung von Kindern und Jugendlichen. Die sozialen und anregenden, aber auch die objektiven und physikalischen Gegebenheiten besitzen vor allem in ihrer subjektiven Bedeutung für die handelnde Person hohe Relevanz. Es ist eine große Herausforderung für die Heilpädagogik, die häufig bestehende Kluft zwischen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln im Sinne der ihr anvertrauten Personen zu schließen, zumindest zu verringern.

Heilpädagogik im Dienste von Kindern und Eltern

Gerade die Heilpädagogik muss Unwohlsein, insbesondere Ängste und Probleme von Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit wahrnehmen und sehr ernst nehmen. Die entscheidenden Erkenntnisse
der Pädagogik und vor allem der Heilpädagogik sind aus Krisen der Systeme, speziell des Schulsystems und mancher Heime im Hinblick auf Nichtbeachtung und Vernachlässigung der Probleme betroffenen Kinder und deren Eltern, hervorgegangen.
Krisen können auch zu entscheidenden Neuorientierungen führen. Gerade in der Gegenwart erweisen
sich Frühe Hilfen, d. h. Erkennen und Diagnose von – häufig system- und umfeldbedingten – Problemen
und prophylaktische Aufarbeitung durch Gespräche als dringend notwendig.
Die häufig so gepriesene pluralistische Gesellschaft geht einher mit den Erscheinungen Hedonismus, Werteverfall sowie Bindungslosigkeit und impliziert für die soziale und emotionale sowie für die geistige Entwicklung vor allem von Kindern und Jugendlichen, aber auch von Erwachsenen, leider auch Bedrohungen und Verletzungen unbekannten Ausmaßes. Insofern müssen Grundfragen im Hinblick auf diese Herausforderungen und Verletzbarkeiten der Gegenwart und Zukunft neu aufgegriffen, reflektiert und beantwortet werden. Dies geschieht auch durch Neuorientierung hin zu einer verstehenden Einstellung und Haltung Menschen gegenüber, die zu einer besseren Lebensbewältigung und damit mehr Lebensqualität führen kann.
Die Aufgabe der Zukunft liegt auch darin, die Komplexität und Vielfalt der Möglichkeiten und Reize unserer Zeit auf ein für alle und für jeden einzelnen Menschen verträgliches und erträgliches Maß zu reduzieren. Manchmal kann weniger mehr sein!

Ziele könnten darin liegen, unsere Möglichkeiten in Richtung Gesundheit, Bewahrung und Neuwahrnehmung der Natur, gegenseitigem Verstehen und Respektieren zu erweitern, Neugierde und Freude selbst wieder und neu wahrzunehmen bzw. zu entdecken, mehr auf die Pflege von Emotionen zu achten und Perspektiven zu entwickeln. Vertreter des Konstruktivismus gehen davon aus, dass jeder Mensch ein autopoietisches selbstreferentielles System, also – absoluter – Gestalter seiner Welt sei. Die Vielfalt der Erfahrungswelt ergibt sich nicht aus der bloßen Abbildung der Umwelt, sondern sie muss erst vom Gehirn konstruiert werden. Jede Sekunde unseres Lebens impliziert die Möglichkeit einer Veränderung und eines Neuanfangs, d. h. wir werden die Vulnerabilität menschlichen Seins nicht besiegen, aber wir können lernen, besser und ehrlicher damit umzugehen. Dabei dürfen wir auch die Hoffnung auf eine Geborgenheit spendende und verstehende Gesellschaft bzw. Gemeinschaft – auch außerhalb der Heilpädagogik – nicht aufgeben. Es ist wichtig, dass es bei aller Unberechenbarkeit unserer Zeit noch einige, besser viele Haltepunkte gibt, die wir als „sicher“, „wahr“, „echt“ und „natürlich“ – im Gegensatz zu fassadenhaft und äußerlich – bezeichnen können. Ich denke, hoffe und wünsche, dass wir Menschen es uns „leisten“ können, echt zu sein. Denken und Handeln bilden auf der Basis eines wertorientierten
Menschenbildes die Grundlage für positive Entwicklungen und für eine gute Lebensqualität. Vulnerabilität, Krisen und Scheitern geben aus heilpädagogischer Sicht und aus der Analyse behindernder Bedingungen Impulse zu einem neuen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln.


Der Autor
Konrad Bundschuh, Univ.-Prof. em. Ordinarius Dr. phil. habil.,
Diplom-Psychologe, Allgemeinpädagoge und Sonderpädagoge
Ludwig-Maximilians-Universität München
Fakultät für Psychologie und Pädagogik,
Lehrstuhl für Verhaltensgestörten- und Geistigbehindertenpädagogik.
Kontakt: k.u.p.bundschuh@t-online.de


Literatur
Buber, M. (2006): Das dialogische Prinzip (10. Aufl.).Heidelberg: Schneider.
Bundschuh, K. (2000): Wahrnehmen – Verstehen – Handeln. Perspektiven für die Sonder- und Heilpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bundschuh, K. (2003): Emotionalität, Lernen und Verhalten. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bundschuh, K. (2008): Heilpädagogische Psychologie (4. Aufl.). München: Reinhardt.
Bundschuh, K. (2010): Allgemeine Heilpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer.
Bundschuh, K. (2019a): Förderdiagnostik konkret. Theorie und Praxis für die Förderschwerpunkte Lernen,
geistige, soziale und emotionale Entwicklung (2. Aufl.). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Bundschuh, K./Winkler, C. (2019b): Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik (9. Aufl.). München:
Reinhardt.
Haeberlin, U. (1994): Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Haupt, 3. Aufl.
Kobi, E. E. (2003): Diagnostik in der heilpädagogischenArbeit (5. vollst. überarb. Edition). Luzern: Verlag der
Schweizerischen Zentralstelle für Sonderpädagogik.
Kobi, E. E. (2010): Personale Heilpädagogik. Kulturanthropologische Perspektiven. Berlin: BHP Verlag.
Möckel, A. (2019): Das Paradigma der Heilpädagogik. Würzburg: Bentheim.
Moor, P. (1974): Heilpädagogik. Ein Pädagogisches Lehrbuch (3. Aufl.). Bern: Huber.
Palfi-Springer, Sandra (2019): Paul Moor – Impulsgeber einer Sinnorientierten Heilpädagogik. Berlin: BHP
Verlag.